Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#atom    07 | 12 | 2007
Blog

Majak, Tschernobyl - alles nur Märchen vom bösen Atom?

Der Spiegel-Artikel über die angeblich überschätzten Gefahren der großen Atom-Zentren in Russland und übertriebenen Folgen des GAUs von Tschernobyl basiert auf einseitigen Aussagen weniger Wissenschaftler, die allerdings bekannt dafür sind, dass sie nicht nur Befürworter der Atomenergie sind, sondern deren Folgen immer wieder systematisch herunter gespielt haben. Der zitierte Herr Haury von der deutschen GSF ist mir zum Beispiel immer wieder zum Thema Versuchsendlager Asse begegnet. Das Absaufen der Asse ist für ihn schon immer “der Auslegungsstörfall”. Herr Prof. Kellerer hat schon nach Tschernobyl dazu beigetragen, den Unfall und seine Folgen zu verharmlosen.

Die Darstellungen über das russische Atom- und Wiederaufarbeitungszentrum Majak sind eine verantwortungslose Herunterspielung bekannter Tatsachen. Seit Inbetriebnahme wurden dort riesige Mengen Radioaktivität durch Unfälle und im Normalbetrieb freigesetzt. Laut Veröffentlichungen von Marvin Goldman (1), Prof. für Radiobiologie in Kalifornien, waren das z.B.:

- 3 Millionen Curie in den Fluss Techa (allein dadurch sollen 1 Million Quadratkilometer Land kontaminiert worden sein)
- 120 Millionen Curie in den See Karachay
- 2 Millionen Curie durch das Vergraben fester radioaktiver Abfälle
- 1 Million Curie durch undichte Lagerbehälter
- 20 Millionen Curie durch die Explosion von Atommüll in Kyschtym im Jahr 1957, wodurch 23.000 Quadratkilometer Land radioaktiv belastet wurden.

Zum Vergleich: Durch den Tschernobylunfall wurden etwa 55 Millionen Curie radioaktives Jod und Cäsium freigesetzt.

Prof. Goldman hat auch über die vielen gesundheitlichen Probleme mit Krankheit- und Todesfolgen für die Arbeiter in Majak und die Anwohner des Flusses Techa publiziert. Eine Umweltministerkonferenz im Jahre 2004 in Budapest hat unterstrichen, dass in den GUS-Staaten erhebliche Gesundheitsprobleme auftreten. Als eines der größten Risiken wurde die Belastung der Böden durch Schwermetalle und Radioisotope festgehalten. (2)

Der Autor des Spiegels versäumt zu erklären, warum alle bisher veröffentlichten Arbeiten zu Majak nicht relevant oder widerlegt sein sollen.

Genauso unreflektiert und unwidersprochen übernimmt er Zahlen zu den Folgen von Tschernobyl. Im Frühjahr dieses Jahres haben sich einige Wissenschaftler und Verantwortliche der WHO, von UNSCEAR, von der EU Kommission auf meine Einladung in Brüssel getroffen. (Unter ihnen war kein “russischer Dissident”, wie der Spiegel in einem überraschend abfälligen Ton bemerkt.) Nachdem anlässlich des 20. Jahrestages von Tschernobyl mehrere Studien über Auswirkungen des GAUs vorgestellt worden waren, kam diese Runde zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Anzahl der zu erwartenden Todesfälle in allen veröffentlichten Studien aus wissenschaftlicher Sicht um dieselbe Größenordnung handelt. Es bestand Einigkeit, dass es mehrere Zehntausend Todesfälle durch den Fallout geben wird. Selbstverständlich werden wir die genaue Zahl der Todes- und Krankheitsopfer der Tschernobylkatastrophe nie erfahren, da ihre Identifizierung epidemiologisch unter jährlich Millionen Krebstoten unterschiedlicher Ursachen nicht möglich ist. Zahlen, wie die im Spiegel benutzten, stehen in einer ernsthaften wissenschaftlichen Diskussion nicht zur Debatte. Diese Zahlen, wie sie auch von der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) veröffentlicht wurden, sind ein Hohn auf ernsthafte Arbeit in der Wissenschaft. Die „Opferzahl“ von 4.000 Toten entstammt einer WHO-Studie von 1996, und bezog sich ausschließlich auf die zu erwartenden Fälle unter den so genannten Liquidatoren und Evakuierten der Kontrollzonen. In der Ukraine, Belarus und Russland ist zwar der größte Anteil der Radioaktivität heruntergekommen und hat zu den höchsten individuellen Dosisleistungen geführt. Doch in den umliegenden Ländern wurden und werden erheblich mehr Menschen niedrigeren Dosisleistungen ausgesetzt. Etwa zwei Drittel der Kollektivdosis verteilt sich auf die Bevölkerungen außerhalb der drei ehemaligen Sowjetrepubliken, vor allem in Westeuropa. Das führt hier zwar zu einem geringeren individuellen Risiko, doch langfristig ist zu erwarten, dass die Mehrzahl der Menschen der Tschernobylkatastrophe außerhalb der drei am meisten primär betroffenen Länder zum Opfer fallen.

Mich entsetzt immer wieder, dass nur Todesfälle als schlimme Folge von Tschernobyl angesehen werden. 4000 Kinder seien an Schilddrüsenkrebs erkrankt, davon seien nur 9 gestorben. Abgesehen davon, dass auch diese Zahlen falsch sind – Ende 2002 waren laut WHO Studie bereits fast 5.000 Kinder allein in den vier am meisten betroffenen russischen Regionen, Belarus und der Ukraine erkrankt und mindestens 15 verstorben; die Kurve der Fälle bei Jugendlichen stieg steil – ist für mich auch ein Leben mit schwerer Krankheit eine schlimme Folge. Hunderttausende von Kranken in Weißrussland, der Ukraine und Russland müssen uns genauso beunruhigen wie die Vielen, die schon gestorben sind oder noch sterben werden. Ärzte und Wissenschaftler, zum Beispiel Prof. Dr. Hayo Eckel von der Universität Göttingen, berichten, dass sie nach den vielen Fällen von Schilddrüsenkrebs nun einen Anstieg von bösartigen Tumoren wie Brustkrebs beobachten, weil diese Krebsarten erst Jahrzehnte nach der Belastung auftreten können. Angesichts des schlechten Zustandes des Gesundheitssystems in Russland, der Ukraine und Belarus können diese Menschen nicht sicher sein, eine angemessene Behandlung zu finden.

Die IAEO hat in ihrem Bericht über die Tschernobylfolgen 2004 übrigens auch festgestellt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion eine der Folgen von Tschernobyl war. Hunderttausende wurden umgesiedelt, haben ihre Heimat und ihr Auskommen verloren, Tausende sollen noch umgesiedelt werden. Die Ukraine muss noch heute einen beträchtlichen Teil ihres Haushaltes in die Tschernobylrenten und die Beseitigung der Folgen investieren. Und trotz milliardenschwerer Finanzhilfe aus dem Westen gehen Rückbau-, Aufräum- und Atommülllagerung nur schleppend voran. Drei große Westfirmen haben in der Zone um Tschernobyl Atommülllager und Müllbehandlungsanlagen errichtet. Keine Anlage konnte termingerecht in Betrieb genommen werden. Das Projekt des französischen Konsortiums wird komplett neu gestartet. Geld ist allerdings mehr ausgegeben worden als geplant. Und demnächst soll das größte Bauprojekt aller Zeiten in Angriff genommen werden. Der “Große Bogen” soll den gesamten Unglücksreaktor abschirmen. Schon interessant, dass einerseits alles nicht so schlimm gewesen sein soll und andererseits die nukleare Bauindustrie in Ost und West hinter diesem Projekt steht. Vor 10 Jahren bat die UNO Hilfsorganisation OCHA für die 60 dringendsten humanitären Tschernobyl-Projekte um 90 Millionen Dollar. Ganze 1,5 Millionen Dollar wurden von den Mitgliedsländern bereitgestellt. Mehrere Milliarden Euro flossen in der Zwischenzeit allein aus den EU-Töpfen in die Atomprogramme in Osteuropa. Die Gefahren der Atomkraft wurden dadurch weder im Osten noch im Westen gebannt. Alles „Legenden vom bösen Atom“?

Quellen:
(1) Marvin Goldman, Professor of Radiobiology Emeritus, The Russian Radiation Legacy: Its Integrated Impact and Lessons, University of California, Davis, California. Environmental Health Perspectives 105, Supplement 6, December 1997
(2) Fourth Ministerial Conference on Environment and Health Budapest, Hungary, 23–25 June 2004, Health and the environment in the WHO European Region: Situation and policy at the beginning of the 21st century, Background document EUR/04/5046267/BD/5, 04 June 2004, Unedited draft.


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