Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#ignalina    28 | 03 | 2019
Blog

Ignalina, die Präsidentin, der Orden und ich

Am 16. Februar 2019 dem 101.Unabhängigkeitstag Litauens wurde mir in Vilnius von Präsidentin Grybauskaite ein Orden verliehen aus Dank für meine Arbeit zur Stilllegung und zum Rückbau des Atomkraftwerkes Ignalina. Es hat mich sehr gefreut zum Ende meines Mandates im Europäischen Parlament mit einem Orden für die Hilfe beim Abriss eines Atomkraftwerkes ausgezeichnet zu werden. Wie es dazu kam? Das ist eine dieser etwas längeren Geschichten.
 
Ich kann gar nicht mehr genau sagen, wann ich das erste Mal wegen Ignalina auf Einladung einer Umweltinitiative, die in den Ostseeanrainerstaaten gegen Atomkraft aktiv war, in das Baltikum gereist bin. Es muss irgendwann in den 80er Jahren gewesen sein. Die Veranstaltung fand damals, noch zu Zeiten der Sowjetunion, auch nicht in Litauen, sondern in Riga statt, der heutigen Hauptstadt Lettlands. Ich hatte im Europäischen Parlament 1986 als Mitarbeiterin von Undine von Blottnitz den Bericht zu den Folgen des radioaktiven Fallouts von Tschernobyl in den EWG-Staaten koordiniert und wurde zu dem Thema in viele Länder eingeladen. Dass die Sowjetunion damals in Ignalina ein baugleiches Atomkraftwerk betrieb, sorgte rund um die Ostsee aber auch in der Sowjetunion für großes Unbehagen. Mitte der 80er Jahre, als die beiden Reaktoren in Betrieb gingen, waren sie die leistungsstärksten Atommeiler der Welt.
 
Als ich viele Jahre nach diesem ersten Vortrag in Riga ins Europäische Parlament gewählt wurde, hatten sich die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit erkämpft.  Die Erfahrung des Supergaus in Tschernobyl und die Lügen über die Gefahren für Mensch und Umwelt trugen zur Abkehr von der Sowjetunion bei.  Gorbatschows Versuch, das sowjetische Kolonialreich zusammenzuhalten, ist auch an der Tschernobyl-Katastrophe gescheitert. In vielen Erzählungen über das Ende der sowjetischen Besatzung, die ich in Litauen gehört habe, markiert Tschernobyl die letzte der vielen Zumutungen, die das Fass zum Überlaufen brachte.
 
Im Jahr 2004, als ich Abgeordnete im Europäischen Parlament wurde, traten die zentral-  und osteuropäischen Staaten der Europäischen Union bei. Im Beitrittsvertrag Litauens war die vorzeitige Stilllegung der Atomreaktoren von Ignalina verankert worden. Gleiches galt auch für das Atomkraftwerk Bohunice in der Slowakei und Kozloduy in Bulgarien. Sicherheitsüberprüfungen der EU hatten ergeben, dass die Reaktoren der drei AKW, die nach dem Tschernobyl Design errichtet worden waren, nicht so nachrüstbar seien, um den EU Anforderungen zu genügen.
 
 In Litauen stieß diese Entscheidung zunächst auf Protest. Bei meinem ersten Besuch als Abgeordnete im Kraftwerk und in Visaginas, der Stadt der Kraftwerksarbeiter, ging es deshalb auch nicht nur um das Kraftwerk, sondern um die Perspektiven für Menschen und die Region. Visaginas ist eine Stadt, die nach sowjetischem Muster für die Arbeiter des Kraftwerks gebaut wurde und damit völlig auf das gigantische AKW ausgerichtet war. In den ersten Jahren nach dem Beitritt zur EU wurde einerseits immer wieder versucht, das Datum der Abschaltung in Ignalina aufzuschieben. Parallel wurde der Neubau eines Atomkraftwerkes geplant. Über Sinn und Unsinn wurde im Parlament lange gestritten. Als im Jahre 2012 eine Volksbefragung organisiert wurde über Neueinstieg oder Ausstieg hat mich das überrascht. Eine Einladung ins Litauische Parlament, um meine Meinung gegen den Neubau eines AKW zu begründen, nahm ich gern an. Ich muss aber zugeben, dass ich sehr skeptisch war, ob Argumente gegen die Atomkraft von einer Deutschen Europaabgeordneten ernsthaft gehört würden. Die Anhörung war dann spannend für mich und die litauischen KollegInnen im Seimas. Als die Abstimmung in Litauen dann mein Wunschergebnis hatte (65% der Wählerinnen und Wähler sprachen sich gegen ein neues Atomkraftwerk aus), war ich allerdings zum zweiten Mal überrascht.
 
Mit der Vereinbarung zur vorzeitigen Stilllegung des AKW Ignalina sagte die EU verbindlich die Übernahme der Rückbaukosten zu. Es wäre unfair gewesen, dem nun unabhängigen, kleinen und wirtschaftlich noch schwachen Land die Kosten für den Rückbau und die Stilllegung des „sowjetischen Atommonsters“ allein aufzubürden. Mit jeder Haushaltsperiode der EU müssen seit der Abschaltung und Beginn des Rückbaus die finanziellen Mittel im Europäischen Haushalt neu verankert werden. Ich arbeite als Abgeordnete des EP seit Beginn meines Mandates zu diesen Entscheidungen. Die erste Periode war mehr als schwierig. Fehlende technische Erfahrungen auch westlicher Auftragnehmer, Missmanagement, Begünstigungen, laisser faire und auch Korruption belasteten die ersten Jahre des Rückbaus genau wie der Unwille vor Ort oder unter den pro Atomkräften in Brüssel. Inzwischen ist das Management einmal komplett ausgetauscht worden. Die Aufsicht in Litauen aber auch durch EBRD und die EU-Kommission ist effektiver geworden. Nach einer Entscheidung des Europäischen Rechnungshofes wird meine langjährige Forderung endlich befolgt. Die EU Gelder dürfen nur noch für den Rückbau und nicht für andere Zwecke ausgegeben werden.
 
Insgesamt habe ich das AKW vier Mal besucht und in alle Phasen Einblick gehabt, durch die die Kraftwerksleitung und die MitarbeiterInnen seit dem Beitritt zur EU und der Stilllegungsentscheidung gegangen sind. Ich habe die Wut des alten Direktors von Ignalina erfahren und die Tränen des Turbinenfahrers gesehen über den Rückbau, den sie als Zerstörung ihres Lebenswerkes empfanden. Ich habe aber auch die Erleichterung derjenigen erlebt, die den Tschernobylschock nie vergessen haben, die Wochen, in denen jeden Tag die radioaktive Belastung Litauens und seiner Regionen bekannt gegeben wurde. Für sie ist das „Nukleare Monster“ ein Erbe der sowjetischen Besatzung, das sie auch überwinden wollen. Für alle Litauer ist und bleibt es wichtig, dass die EU zu den Versprechen steht, die mit dem Beitrittsprotokoll gegeben wurden. Der Rückbau ist schwierig und birgt auch nach der Abschaltung der Reaktoren noch viele eigene Risiken. Die Stilllegung und die großzügige Finanzierung des Rückbaus dienen der Sicherheit nicht nur Litauens sondern Europas. Erfahrungen, die in Ignalina für den Rückbau gesammelt werden, können bei zukünftigen Rückbauprojekten von Nutzen sein.  2009, also 5 Jahre nach dem Beitritt Litauens zur EU, ging Ignalina vom Netz. Die letzte Phase des Rückbaus soll 2038 abgeschlossen sein. Es werden also noch mehrfach EU Entscheidungen zu treffen sein. Die Teilung der Kosten sollte nicht zu Ungunsten Litauens verschoben werden. Dabei geht es darum, den Osteuropäern zu zeigen, dass Brüssel seine Versprechen hält.  Dieses Land braucht weiter seine Mittel, um Wirtschaft und Industrie zu erneuern und die Abwanderung der jungen Generation zu stoppen.
 
Für den Wermutstropfen in der Geschichte über Ignalina, den Abriss und den Atomausstieg Litauens sind Moskau und Minsk verantwortlich. Während die Stilllegung Ignalinas vorangetrieben wurde, hat Rosatom in Astrawez, nur 35 km östlich von Vilnius ein neues Atomkraftwerk hochgezogen. Pannen, Unfälle und Intransparenz kennzeichnen die gesamte Bauphase. Den Stresstest der EU, der nach der Fukushima für Atomkraftwerke eingeführt wurde und der in Astrawez durchgeführt wurde, hat das AKW nach Angaben aus der EU Kommission nicht bestanden. Die Ergebnisse sind leider nicht öffentlich, sodass die Behauptung, die Mängel könnten durch Nachrüstungen behoben werden, nicht überprüfbar ist. Die Regeln der Espoo-Konvention sind ebenfalls nicht eingehalten.  Die Menschen in Vilnius fühlen sich betrogen und bedroht durch das neue Rosatom Monster, das die vielen Ballonfahrer in Vilnius bei gutem Wetter von der Hauptstadt aus sehen können. Der jüngste Vorschlag aus Vilnius an Minsk ist, das Projekt in Astrawez auf Gas umzurüsten. Damit ginge ein Teil der Investitionen verloren aber nicht alle. Und Minsk könnte Strom aus Astrawez exportieren und eigenes Gas gewinnbringend einsetzen, wenn es auf die Reaktoren in Astrawez aber nicht auf das Kraftwerk insgesamt verzichten würde.
 
Der Orden, den Präsidentin Grybauskaite mir ansteckte, verpflichtet mich, meinen Freunden in Litauen weiter zur Seite zu stehen. Es war eine Freude und eine Ehre für Litauen zu arbeiten. Es wird mir weiter ein Vergnügen sein, die oft sehr jungen Leute zu unterstützen, die in Litauen von Vilnius bis Visaginas so engagiert an der Energiewende arbeiten.  


#ignalina   #litauen   #atomenergie   #atomkraft   #europäisches parlament