Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#atomkraft    07 | 03 | 2014

Drei Jahre danach: Der Status von Fukushima und der weltweiten Atomindustrie

7.3.2014

von Mycle Schneider [1]

im Auftrag von Rebecca Harms, Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament

 

Brüssel, Paris, März 2014

Drei Jahre nach der Katastrophe von Fukushima ist die Situation vor Ort weiterhin besorgniserregend. Die hohe Strahlenbelastung erschwert die Arbeitsbedingungen und macht weiterhin den Zugang zu den Reaktorgebäuden unmöglich. Riesige, ständig wachsende Mengen hochradioaktiven Wassers und kontaminierter Abfälle müssen gelagert, behandelt und entsorgt werden. Allerdings scheint das Management improvisiert zu sein, und nur kurzfristigen Überlegungen ohne langfristige Konzepte zu folgen. Radioaktivität wird weiterhin in die Umwelt abgegeben. Hauptsächlich in das Grundwasser und in den Ozean. Mehr als 150.000 Menschen sind immer noch evakuiert. Viele von ihnen befinden sich in Notunterkünften, die meisten haben keinerlei Aussicht darauf, jemals wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Statt die Gesundheit der Menschen zu schützen wurden die Dosisgrenzwerte erhöht, um sie an die Umweltbedingungen anzupassen. Und der dramatische Anstieg der freigesetzten Strahlung bleibt immer noch ein glaubwürdiges Szenario bis die radioaktiven Stoffe in den Reaktorkernen, in den Abklingbecken, in Wasser und Abfällen stabilisiert und entsorgt wurden. Dies wird voraussichtlich Jahrzehnte dauern.

 

Verblassende Erinnerungen

Drei Jahre nach dem Beginn der Katastrophe von Fukushima, sagten 77 Prozent der Bewohner von Fukushima in einer am 4. März 2014 veröffentlichten Umfrage der japanischen Tageszeitung Asahi Shimbun, dass "die Erinnerungen an den Atomunfall verblassen und die japanische Bevölkerung immer weniger Interesse an den Opfern hat. Dagegen glauben 19 Prozent, dass der Rest der Nation sich immer noch Sorgen um sie mache". Wie wäre wohl das Ergebnis einer internationalen Umfrage? Das Vertrauen in die Zentralregierung und den Betreiber TEPCO wird immer geringer. 74 Prozent der Bewohner von Fukushima sind mit den Gesamtmaßnahmen der Regierung im Umgang mit dem Unfall unzufrieden und 83 Prozent sind über die Handhabung von kontaminierten Wasserlecks enttäuscht.

 

Hans Blix, der ehemalige Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde hat die Katastrophe von Fukushima "a bump in the road" - einen Holperstein auf dem Weg der Atomkraftentwicklung genannt. Die Aussage zeigt nicht nur ein bemerkenswertes Maß an Arroganz, die häufig unter Sprechern der Atomindustrie zu finden ist, und einen eher außergewöhnlichen Zynismus gegenüber den Opfern der Katastrophe, die alles verloren haben, sondern auch einen überraschenden Realitätsverlust. Die Ereignisse in Fukushima haben eine Industrie getroffen, die bereits vor 2011 damit zu kämpfen hatte, ihren Status-quo aufrecht zu erhalten. Die Schwierigkeiten haben, mit einem beispiellosen Rückgang um 7 Prozent bei der Erzeugung von Atom-Strom im Jahr 2012, zur Beschleunigung ihres Niedergangs geführt. Neue Projekte wurden verzögert, aufgegeben oder liegen weit über dem Budget, weil riesige Investitionen in Nachrüstung und Modernisierung bevorstehen und noch immer stehen alle japanischen Atomkraftwerke still. Obwohl die Versammlung der Präfektur Fukushima bereits sechs Monate nach der Katastrophe eine Resolution für eine atomfreie Präfektur verabschiedet hatte, dauerte es bis Dezember 2013 bis der Betreiber TEPCO die Einheiten Fünf und Sechs von Fukushima Daiichi offiziell aufgegeben hatte.

 

Der Status von Fukushima

Die Dreifach-Katastrophe mit Erdbeben, Tsunami und Atomunfall am 11. März 2011, die im englischen Sprachraum als 3/11 (three-eleven analog zu 9/11) bezeichnet wird, hat eine Kette von Ereignissen von noch nie dagewesenem Ausmaß ausgelöst. In drei Reaktoren am Standort Fukushima Daiichi, 60 km von der Stadt Fukushima entfernt, kam es zu Kernschmelzen. Die Einheiten Eins, Drei und Vier, (Reaktor 4 war zu der Zeit des Erdbebens nicht in Betrieb) wurden außerdem von Wasserstoffexplosionen stark beschädigt. Mehr als 150.000 Menschen wurden evakuiert, und eine unbekannte Anzahl von Menschen hat sich selbst evakuiert. 2.000 km² wurden zur Sperrzone erklärt. Aktuelle Meldungen über die erste Aufhebung der Evakuierung für einige hundert Menschen, die in einen Bereich am Rand der 20 km Evakuierungszone zurückkehren konnten, können die Tatsache nicht vertuschen, dass die meisten der Evakuierten wahrscheinlich nie in der Lage sein werden, außer unter gefährlichen Bedingungen nach Hause zurückzukehren. Die Aufhebung der Evakuierungsanordnung fällt in die gleiche Zeit wie die Ankündigung von TEPCO, die Entschädigung für Menschen, die ihr Einkommen komplett oder teilweise verloren haben, einzustellen. Offensichtlich zielen beide Maßnahmen darauf ab, die steigenden Kosten der Katastrophe zu begrenzen. Die weitreichendste Maßnahme in diesem Zusammenhang ist die nach 3/11 getroffene Entscheidung, die zulässige Strahlendosis von externen Quellen - also exklusive interne Strahlenbelastung durch kontaminierte Lebensmittel und durch Einatmen - um einen Faktor von 20 von 1mSv [2] auf 20mSv pro Jahr zu erhöhen. Dies erhöht die Dosisgrenzwerte für die Öffentlichkeit, darunter schwangere Frauen [3] und kleine Kinder, auf den Wert für ausgewählte, geschulte Arbeiter in Kernkraftwerken.

Einige Aspekte der Situation vor Ort werden zwar immer besser, aber viele Punkte bleiben kritisch oder werden sogar noch schlimmer. Die gute Nachricht ist, dass die Entladung der Brennelemente aus dem Becken der Einheit Vier im November 2013 begonnen hat und am 10. Februar 2014 insgesamt 308 Brennelemente (einschließlich 22 unverbrauchte) von insgesamt 1.533 (inkl. 202 unverbrauchte) entfernt worden waren und in das gemeinsame Brennelementbecken vor Ort gebracht wurden. Das Abklingbecken der Einheit Vier war und ist von besonderer Bedeutung, da es in etwa so viele Brennelemente wie die anderen drei Reaktorbecken zusammen und weniger gekühlte Brennelemente enthält. Der gesamte Kern befand sich während der 3/11 Katastrophe nämlich im Becken, weil der Reaktor gerade gewartet und inspiziert wurde. Ein größeres Leck im Becken oder ein Zusammenbruch des Beckens mit anschließendem Brand der abgebrannten Brennelemente wurde bereits zwei Wochen nach 3/11 als "Worst-Case-Szenario" gesehen. Die Japanische Atomenergiekommission hatte berechnet, dass unter einem solchen Szenario mit ungünstigen Windverhältnissen potenziell bis zu 10 Millionen Menschen auch aus der Region Tokio evakuiert werden müssten. Die Brennstoffentladung der Einheit Vier wird sich laut den Erwartungen das gesamte Jahr 2014 über fortsetzen. Die gleiche Arbeit muss auch an den anderen drei Einheiten durchgeführt werden.

Inzwischen wurden Tausende Tonnen von Schutt und Geröll aus den Reaktoren und ihrer unmittelbaren Umgebung entfernt. Abdeckungen wurden auf den Einheiten angebracht, bei denen die Dächer durch die Wasserstoffexplosionen weggeblasen worden waren. Diese Abdeckungen bieten nun einen gewissen Schutz gegen Witterungseinflüsse.

Andererseits verschlechtern sich auch viele Aspekte. Eine der größten Herausforderungen ist wahrscheinlich die Aufgabe, die Integrität der dauerhaft Meerwasser, Taifunen und schwerem Regen ausgesetzten Infrastruktur zu erhalten - ob nun Gebäude und Lagertanks oder mehrere Kilometer Rohre und Schläuche, etc. Vinyl-Rohre an der Oberfläche sind im Winter Frost ausgesetzt und haben zahlreiche Lecks erlitten.

Signifikante Mengen an Wasser, ungefähr 350m³ pro Tag, müssen noch immer in die drei Reaktorgebäude geleitet werden, um die geschmolzenen Kerne abzukühlen. Dieses Wasser wird durch die beschädigten Brennelemente kontaminiert und dringt, da die Reaktordruckbehälter kaputt sind, in die Keller ein. Unter der Atomanlage läuft ein unterirdischer Fluss, der ursprünglich an der Gebäude-Infrastruktur vorbei geleitet wurde. Diese Umleitung wurde jedoch durch das Erdbeben zerstört und seitdem fließen schätzungsweise 400m³ pro Tag in die Keller und vermischen sich dort mit dem hochradioaktiven Wasser aus der Kernkühlung. Obwohl Kühlwasser aus den Kellern genommen, zu einem gewissen Grad dekontaminiert und zum Abkühlen verwendet wird, um eine massive, permanente Überschwemmung zu vermeiden, muss eine gewisse Menge, die mindestens der Menge des eindringenden Grundwassers entspricht, entfernt werden. Mit anderen Worten: Es müssen jeden Tag zusätzliche 400m³ Wasser aus den Kellern gepumpt, zu einem gewissen Grad dekontaminiert und gelagert werden. Das bedeutet wiederum, dass alle zweieinhalb Tage ein 1000m³-Tank gefüllt ist. Das Dekontaminierungssystem hatte seit Aufnahme seines Betriebs seine eigenen vielfältigen Probleme.

Als Ergebnis steigt die Menge des stark kontaminierten Wassers stetig, bis Ende 2013 auf 440.000m³, vier Mal mehr als im September 2011. Davon befinden sich etwa 350.000m³ in über tausend Tanks und der Rest in den Kellern. Die Menge von allein in den Kellern befindlichem Cäsium-137 wird auf etwa das 1,5-fache der im Jahr 1986 in Tschernobyl in die Umwelt freigesetzten Menge oder das zehnfache der in den ersten Wochen der Katastrophe in Fukushima im Jahr 2011 freigesetzten Menge geschätzt.

Die Lagertanks befinden sich auf schlechten, nicht-erdbebensicheren Betonfundamenten, die bereits erhebliche Risse aufweisen. Mehr als 300 Tanks, von denen jeder etwa 1.000m³ hochradioaktives Wasser enthält, sind zusammen geschraubt und nicht verschweißt. Im Herbst 2013 forderte die Nuclear Regulation Authority (NRA), die geschraubten durch geschweißte Tanks zu ersetzen, doch dies wird längere Zeit dauern. Viele dieser Behälter haben keine Volumenmesser, so dass Lecks nicht oder nur schwer zu erkennen sind. Lecks kommen jedoch häufig vor. Bei mehreren Gelegenheiten hat TEPCO zugegeben, dass hoch kontaminiertes Wasser das Meer erreicht hat. In Zukunft ist geplant, das verunreinigte Wasser zu färben, damit Lecks leichter zu erkennen sind und Verwechslungen mit Regenwasserpfützen vermieden werden. Mehr Mitarbeiter bei den "Patrouillen" sollen auch eine schnellere Lecksuche ermöglichen. Der Mangel an gut gestalteter, automatisierter Überwachung geht auf Kosten der erhöhten Strahlenrisiken für die Mitarbeiter.

Ein weiteres komplexes Gebiet ist die Lagerung und Entsorgung der riesigen Mengen von Schlämmen und Filtern aus den Dekontaminierungsmaßnahmen sowie anderer kontaminierter fester Abfälle. Die Handhabung, Transport, Lagerung und Entsorgung der hochaktiven Filter und Schlämme wird eine der großen Herausforderungen der Zukunft sein.

All diese Aktivitäten erfordern einen menschlichen Eingriff. Zehntausende Arbeiter sind schon am Standort beschäftigt gewesen. In einem Überblick vom 30. August 2013 gab das japanische Gesundheitsministerium an, dass eine Gesamtmenge von fast 29.000 Menschen an der Atomanlage beschäftigt worden ist. Weniger als 4.000 davon waren Mitarbeiter TEPCO, während es sich bei 25.000 um Auftragnehmer und unzählige Ebenen von Subunternehmern handelte. TEPCO hat zunehmend Schwierigkeiten, neue Arbeitskräfte zu finden, um diejenigen zu ersetzen, die aufgeben, weil sie entweder entmutigt sind oder weil sie die offiziellen Dosisgrenzwerte überschritten haben.

Die Presseagentur Reuters hat in den am stärksten kontaminierten Gebieten der Fukushima-Sperrzone 733 Unternehmen, die Arbeiten unter Verträgen mit dem Umweltministerium ausführen, und 56 Subunternehmen, die "in Verträgen mit dem Umweltministerium im Gesamtwert von $2,5 Milliarden aufgeführt sind", ausfindig gemacht. In einer erstaunlichen Untersuchung [4] veranschaulicht Reuters, wie Obdachlose Ziel von Headhuntern für die Arbeit in den verseuchten Gebieten geworden sind.

Der Asien-Spezialist und Arbeitsmarktexperte Paul Jobin, Associate Professor an der Universität Paris Diderot, fasst zusammen:

• Öffentliche Gebote sind nun fast vollständig von den Bau-Unternehmen an der Spitze (moto uke) und der Yakuza [japanische Mafia] am unteren Ende kontrolliert,

• Obwohl das Umweltministerium nur zwei Ebenen von Subaufträgen genehmigt, sind die Ebenen der Subaufträge in der Praxis noch zahlreicher als bei F1 [Fukushima Daiichi] und anderen Kernkraftwerken. Zwischen seinem eigenen Arbeitgeber und der Baugesellschaft Shimizu, moto uke, hat Masato [ein Pseudonym für einen Arbeiteraktivisten] 24 Ebenen gezählt,

• Lohnbeschneidungen sind die Norm und viele Arbeiter bekommen, wenn überhaupt, nur noch einen winzigen Teil der 10.000 Yen Gefahrenzulage;

• Die Mehrheit der Arbeitnehmer erhält von ihren Arbeitgebern keine Leistungen zur Krankenversicherung und aus verschiedenen Gründe melden sie sich nicht beim individuellen nationalen Krankenversicherungssystem an. [5]

Viele Krankheiten, die sich bei den Fukushima-Arbeitern entwickeln könnten, werden wahrscheinlich niemals gemeldet.

Die außerordentliche Komplexität und der beispiellose Umfang der Herausforderungen, die die langfristige Stabilisierung des Fukushima-Standorts darstellt, haben bereits früh zu dem Vorschlag der Einrichtung einer Internationalen Task Force Fukushima [6] geführt. Eine permanente Gruppe von Top-Level-Experten in den betreffenden Schlüsselfeldern sollte strategische Empfehlungen für kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen erarbeiten. Als konzertierte internationale Initiative konzipiert, würde die Gruppe Zugang zu einem großen Netzwerk von weiteren Experten haben. Im Dezember 2013 organisierte Rebecca Harms, Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament, ein Treffen von Experten und Aktivisten im Parlament, um mögliche Wege zu diskutieren, um die Initiative voranzubringen. Es wurde berichtet, dass viele Menschen auf der ganzen Welt [7] die Grundidee unterstützen, aber es fehle ein wesentliches Puzzleteil: ein institutioneller Partner oder Initiator in Japan.

 

Der Status der weltweiten Atomindustrie

Zum 1. Januar 2014 gab es laut einer vorläufigen Analyse 430 "im Betrieb" befindliche Atomreaktoren auf der ganzen Welt . Die Zahl ist identisch mit der Situation vor einem Jahr. Die wichtigsten Veränderungen in den weltweiten Atomenergie-Statistiken im Jahr 2013 beinhalten vier neu ans Netz angeschlossene Anlagen, drei davon in China (Hongyanhe-1 & -2) und Yangjiang-1) und eine in Indien (Kudankulam-1) - während vier Einheiten als endgültig abgeschaltet gemeldet wurden. So ist im Jahr 2013 die Anzahl der Einheiten, die als "in Betrieb befindlich" gelten, stabil geblieben, während im Jahr 2012 die Anzahl der Start-ups überwogen hatte. Eine ganz neue Entwicklung liegt in der Tatsache begründet, dass sich alle vier abgeschalteten Reaktoren (Crystal River-3, Kewaunee und San Onofre-2 und -3) in den USA befinden und dies die erste Abschaltung von Kernkraftwerken in diesem Land seit 15 Jahren darstellt. Eine zusätzliche Einheit in den USA, Vermont Yankee, soll im Jahr 2014 vom Netz gehen, obwohl sie eine Lizenzverlängerung für einen Betrieb bis 2032 erhalten hatte.

Die Anzahl der Reaktoren, die in der Welt als "in Betrieb" gelten, ist wegen der Situation in Japan nach den Ereignissen in Fukushima vom März 2011 irreführend. Nur zwei der 50 offiziell "betriebsfähigen" Reaktoren haben im Jahr 2013 Strom erzeugt und seit September 2013 hat kein Atomkraftwerk in Japan Strom erzeugt. Die weltweite Anzahl von 430 Einheiten enthält zwar nicht die zehn Reaktoren in Fukushima, aber die restlichen 44 japanischen Einheiten, von denen die meisten seit zwei oder mehr Jahren keinen Strom mehr erzeugt haben.

Beispiellose Entwicklungen können auch für den Bau von Reaktoren verzeichnet werden. Zum ersten Mal in dreieinhalb Jahrzehnten wurde Beton für Neubauprojekte in den USA (Virgil C. Summer-2 und -3, Vogtle-3 und -4) gegossen. In Weißrussland hat der Bau von Belarusian-1 begonnen. Dies ist das erste Kernkraftwerk in einem Land, das im Jahr 1986 stark von Folgen der Tschernobyl-Katastrophe beeinträchtigt wurde. Drei weitere Einheiten sind in China (Tianwan-4, Yangjiang-5 und -6) im Bau, während die VAE die Arbeit an Barakah-2 und Südkorea an Shin-Hanul-2 aufgenommen haben. Dadurch liegt die Zahl der "im Bau" befindlichen Kernreaktoren mit Stand vom 1. Januar 2014 [8] bei 69. Zum Vergleich: Ein Jahr zuvor waren es 64, und zwei Jahren zuvor noch 9 mehr. Wie in den verschiedenen World Nuclear Industry Status Reports veranschaulicht, haben die meisten der Bauvorhaben erhebliche Verzögerungen. Dies ist ohne Zweifel eine der Erklärungen dafür, warum der Anstieg der Zahl der Baustellen nicht automatisch eine wachsende Zahl von in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken bedeutet.

Ein durchgängiges Beispiel für Probleme auf Kernkraft-Baustellen sind die so genannten Europäischen Druckwasserreaktoren (European Pressurized water Reactor, EPR), die sich in Finnland und Frankreich im Bau befinden. Das französische öffentliche Unternehmen AREVA, geschäftsführender Architekt des finnischen Kernkraftwerks in Olkiluoto, kündigte zum 26. Februar 2014 einen Verlust von fast 500 Millionen € an, der im Wesentlichen auf Rückstellungen für weitere zu erwartende Verluste für das finnische EPR zurückzuführen ist. Der Aktienwert fiel um 14%. Die Anlage liegt bereits 5 Jahre hinter dem Zeitplan und wird wohl weitere vier Jahre nicht ans Netz angeschlossen werden können. Die letzte offizielle Kostenschätzung lag bei 8,5 Mrd. €, d.h. eine Kostensteigerung um den Faktor vier über einen Zeitraum von zehn Jahren. Inzwischen hat das öffentliche französische Energieversorgungsunternehmen und der größte Kernkraftwerkbetreiber der Welt zugegeben, dass sie vor einer extrem schwierigen Zeit stehen; mit einer "prognostizierten Verdoppelung der Ausgaben zwischen 2010 und 2020 (Betrieb und Investitionen)" und mit "einem Höchstwert bei den Personalabgängen wegen Ruhestand bei gleichzeitigem Höchststand der Aktivitäten" [9]. Die aktuelle Schätzung für die Modernisierung der 58 Kernreaktoren in Frankreich liegt bei rund 75 Mrd. €, d.h. 20 Mrd € mehr als bisher angegeben. Eine umfassende 170-seitige unabhängige Bewertung [10] der Bedingungen und Kosten der möglichen Laufzeitverlängerung über 40 Jahre hinaus zeigt, dass die Modernisierungskosten je Reaktor noch um den Faktor drei höher sein könnten. Diese Perspektiven fallen in eine Situation, in der EDF eine sehr hohe Schuldenlast von über 35 Mrd. € verzeichnet und die nationale Energiebehörde berechnet, dass der Stromkonzern rund 1,5 Mrd. € verliert, weil der durchschnittliche Strompreis nicht die Kosten deckt. Als Folge fordert der Regulierer große Strompreiserhöhungen, - nicht gerade eine sehr beliebte Maßnahme - die voraussichtlich zwischen 2013 und 2017 an die 30 Prozent erreichen werden. An diesem Punkt wird Enercoop - ein Anbieter von 100 Prozent Erneuerbaren Energien, der bisher der teuerste Anbieter in Frankreich war, aber nie seine Tarife erhöht hat - zu einem niedrigeren Preis verkaufen als EDF seinen Strom aus Atomkraft.


Fußnoten

[1] Mycle Schneider ist ein unabhängiger internationaler Energie- und Atompolitik-Berater. Er ist Hauptautor des World Nuclear Industry Status Report.

[2] 1 Millisievert

[3] Ein Fötus ist etwa um zwei Größenordnungen strahlenempfindlicher als ein Erwachsener.

[4] Reuters, "Sonderbericht: Japan’s homeless recruited for murky Fukushima clean-up (Japanische Obdachlose werden für düstere Aufräumarbeiten in Fukushima rekrutiert ", 30. Dezember 2013; Siehe http://www.reuters.com/article/2013/12/30/us-fukushima-workers-idUSBRE9BT00520131230

[5] Paul Jobin, "The Roadmap for Fukushima Daiichi and the Sacrifice of Japan's Clean-up Workers" (Der Fahrplan für Fukushima Daiichi und das Opfer der Liquidatoren in Japan):" The Asia-Pacific Journal, Vol. 11, Ausgabe 28, Nr. 2, 15. Juli 2013, siehe http://japanfocus.org/-Paul-Jobin/3967#sthash.70G5wSRF.dpuf

[6] Eine detaillierte Beschreibung des Konzepts finden Sie unter Mycle Schneider: "Why Fukushima is worse than you think (Warum Fukushima schlimmer ist als Sie denken)", CNN Special", 30. August 2013.

[7] Ein weiterer chinesischer Reaktor, Ningde-2, wurde im Januar 2014 in Betrieb genommen.

[8] Der Bau eines weiteren Kraftwerks wurde im Februar 2014 begonnen. Es handelt sich um einen kleinen 25 MW-Reaktor in Argentinien. Da aber der Reaktor, dessen Bau im Januar 2014 begonnen hatte, nicht mehr im Bau befindlich ist, bleibt die Gesamtzahl der im Bau befindlichen Einheiten Anfang 2014 bei 70.

[9] EDF, "Les grands Chantiers du nucléaire civil - Le grand carénage 'du parc nucléaire de production d'EDF (Die großen Baustellen der zivilen Nutzung der Atomkraft - Das "große Reinemachen" de Kernkraftanlagen von EDF) ", 14. Januar 2014.

[10] Yves Marignac, "L'échéance des 40 ans pour le parc nucléaire français (Eine Frist von 40 Jahren für die französischen Kernkraftwerke", WISE-Paris, Frankreich im Auftrag von Greenpeace, 22. Februar 2014; siehe www.greenpeace.org/france/.../greenpeace-rapport-echeance-40-ans.pdf


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